Medien für eine progressivere Gesellschaft
Medien für eine progressivere Gesellschaft
Einige lachen und schütteln sich wie wahnsinnig. Andere liegen nur noch zuckend auf dem kalten Boden, die Augen weit aufgerissen und verdreht. Schaum und Speichel läuft ihnen aus dem Mund. Manche versuchen sich ihre brennende Haut mit Wasser zu löschen, doch da ist kein Feuer das es zu löschen gibt. Das Wasser lässt es nur noch viel schmerzhafter brennen. Das komplette Gesicht ist voller Blasen und offenen Stellen. Gekrümmt liegen die am Boden, die es nicht überlebt haben. Ihr Nervensystem hat versagt, oder ihre Lunge ist kollabiert oder ihr Herz stehen geblieben.
Je nach dem Gas, das eingesetzt wird, gibt es verschiedene Überlieferungen der Auswirkungen. Viele Überlebende beschreiben oft einen zunächst faulen Geruch, der sich dann in den süßlichen Geruch von Äpfeln wandelt. Die kurdische Bevölkerung wurde in den letzten Jahrzehnten so oft mit Giftgas angegriffen, dass sie deswegen ein eigenes Sprichwort für solche Attacken hat: Behna seva te oder Elma kokusu (auf türkisch). Zu deutsch „Der Geruch nach Äpfeln“. Doch wie kommt es, dass eine Bevölkerung so oft ins Visier einer so schrecklichen Waffe genommen wird?
Umriss der Geschichte
Dazu müssen wir uns die Geschichte der Kurd:innen im letzten Jahrhundert anschauen, und hier im speziellen die Geschichte des Hasses gegen sie. Ein sehr wichtiges Ereignis ist dabei das Massaker von Dersim in den Jahren 1937/1938. Dokumente aus dem Archiv der Republik Türkei bestätigen dabei die Verwendung von Brandbomben und Giftgas1. Dabei wurden laut türkischen Berichten 10% der Bevölkerung vor Ort getötet. Ziel war die homogenisierung der Bevölkerung und vor allem die Niederschlagung der Aufstände durch die alevitischen-Kurd:innen.
Giftgas Angriffe sind für das kurdische Volk, aber nicht nur vor 85 Jahren brutale Realität. Der Einsatz chemischer Waffen gegen die kurdische Bevölkerung baut seine Kontinuität spätestens in den 1980er Jahre aus, als das irakische Regime von Saddam Hussein chemische Waffen nutzte, um deren Aufstand niederzuschlagen.
Einer der berüchtigtsten Vorfälle war der Angriff auf die Stadt Halabja im Jahr 1988. Bei diesem Angriff wurden Senfgas und Nervengas eingesetzt, wobei schätzungsweise 5.000 Zivilist:innen getötet und Tausende verletzt wurden. Es handelte sich um den tödlichsten chemischen Angriff auf eine Zivilbevölkerung in der Geschichte. Viel weniger im Fokus liegt aber die sogenannte Anfal-Kampagne zur gleichen Zeit. Während bei dem Angriff auf Halabja sich ein „militärischen Nutzen“ durch die dort stationierten iranischen Streitkräfte erahnen lässt, wurden bei der Anfal-Kampagne innerhalb weniger Monate Dutzende Dörfer mit Giftgas angegriffen, Hunderte Dörfer bombadiert und Tausende Menschen deportiert.
Der Einsatz chemischer Waffen gegen die Kurd:innen setzte sich in den 1990er Jahren fort. 1991 wurde die Sonderkommission der Vereinten Nationen für den Irak (UNSCOM) eingesetzt, um die Vernichtung der irakischen Massenvernichtungswaffen, einschließlich der chemischen Waffen, zu überwachen. Trotz der Bemühungen, das irakische Chemiewaffenprogramm zu zerstören, gab es immer wieder Berichte über chemische Angriffe gegen die Kurd:innen.
Im Jahr 2013 wurde die syrische Regierung beschuldigt, chemische Waffen gegen kurdische Zivilist:innen in der Stadt Saraqib eingesetzt zu haben. Bei dem Angriff wurden Berichten zufolge Dutzende Menschen getötet und Hunderte weitere verletzt. Die syrische Regierung bestritt die Vorwürfe, doch eine UN-Untersuchung fand später Beweise für den Einsatz von Chemiewaffen bei dem Angriff.
Im Jahr 2017, setzte der Islamische Staat im Irak und in Syrien (ISIS) chemische Waffen gegen kurdische Kräfte in Südkurdistan (Nordirak) ein. Bei dem Angriff wurde Chlorgas eingesetzt und es gab mehrere Verletzte. Im selben Jahr soll auch das syrische Regime unter Assad Giftgas in Ost-Ghouta, Khan Sheikhoun und Douma eingesetzt haben.
Doch die Kontinuität endet auch hier nicht. Der mittlerweile fast 40 Jahre währende Krieg der Türkei gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verzeichnet mit „konventionellem“ Kriegsgerät immer wieder schwere Niederlagen. Nicht einmal der Einsatz tausender Soldaten und modernster Kriegstechnik verschafft der Türkei nennenswerte Erfolge. Spätestens seit den Großoffensiven von 2008 und 2021 gibt es auch hier zahlreiche Augenzeugenberichte und Videobeweise, die den Einsatz chemischer Waffen dokumentieren. Insbesondere mit Giftgas wird so versucht gegen die Guerilla vorzugehen, die sich in umfangreichen Tunnelsystemen verschanzt.
„Es würde uns nicht wundern, wenn die Türkei, sowohl in Rojava als auch in Qandil Giftgas einsätzt.“, sagt der Vorsitzende der Community Peacemaker Teams (CPT) in irakisch Kurdistan, Kamaran Othman. „Tatsächlich kriegen wir immer wieder Zeugenberichte und Videos über Einsätze zugespielt.“. Im vergangenen Jahr hat die CPT auch zusammen mit der IPPNW versucht Expert:innen vor Ort zu entsenden um einen Bericht zu verfassen. Doch untersagten dies die lokalen Autoritäten, die von Anfang der Offensive von 2021 mit der Türkei kooperieren.
Chemische Angriffe gegen das kurdische Volk wurden von der internationalen Gemeinschaft halbherzig verurteilt, kommen aber weiterhin vor. Der Einsatz chemischer Waffen stellt einen Verstoß gegen das Völkerrecht dar und gilt als Kriegsverbrechen.
Unbedingt zu erwähnen sind auch die allerjüngsten Ereignisse im Iran. Bei denen bislang Unbekannte Giftgas gegen Mädchenschulen einsetzen, um mutmaßlich die Proteste zu bekämpfen. Das die Proteste in den kurdischen Gebieten von Anfang an am stärksten waren und die getötete Jina Mahsa Amini Kurdin war ist ein wichtiger Faktor in dieser Revolution.4 Auch wenn das Giftgas nicht direkt gegen Kurd:innen eingesetzt wird, so geht es mindestens gegen die Idee eines echten demokratischen Miteinanders, welches in den Teilen der progressiven kurdischen Bevölkerung, allen voran der kurdischen Freiheitsbewegung, weit verbreitet ist.
„Die internationale Gemeinschaft ist Blind.“, sagt Kamaran Othman, „Sie sieht nicht was der Zivilbevölkerung seit Jahren hier angetan wird. Gleichzeitig haben sie sehr wohl die Menschenrechtsverbrechen Russlands im Blick. Doch wenn es zum Nahen Osten kommt, dann sehen sie nicht was ihr nichts-tun mit der Bevölkerung anstellt.“
Dabei kann gerade Deutschland als Mitgliedsstaat des Chemiewaffenabkommen die OPCW als unabhängiges Prüfmedium in die Regionen entsenden lassen. Und das die Deutsche Regierung dazu eine historisch gewachsene Verantwortung hat, sollte mittlerweile auch klar sein. Die Chemikalien für das Dersim Massaker sind aller Wahrscheinlichkeit nach aus Deutschland. Die chemischen Waffen von Saddam Hussein wurden maßgeblich von deutschen Firmen konstruiert, deren Ahndung und Aufarbeitung die Bundesregierung, aus den Augen von Betroffenenverbänden, komplett versäumte. Darüber hinaus scheint die sogenannte deutsch-türkische Freundschaft jegliches kritische Hinterfragen des Kriegs des Erdogan-Regimes gegen die kurdische Freiheitsbewegung zu verbieten.
Um ein nachhaltiges Ende der Gewalt zu erzielen braucht es Diplomatie und Verhandlungen. Aber wie soll verhandelt werden wenn die „internationale Gemeinschaft“ und darunter auch Deutschland eine Verhandlungspartnerin dabei als Terrororganisation einstuft? Einmal abgesehen von der Frage nach er Grundlage dieser Einstufung, ist die wichtige Frage, ob denn wirklich jedes Mittel gegen „Terrorist:innen“ legitim oder sogar legal ist?
„Was ist die Bedeutung von Menschenrechte, wenn ein großer NATO-Mitgliedsstaat vermeidlich Giftgas einsetzt, aber sich vor genaueren Untersuchungen gedrückt wird?“, prangert Kamaran Othmann von der NGO CPT an. „Eines Tages brauchen wir einen gerechten Prozess, sowie es ihn auch bei Saddam Hussein gegeben hat, bei Erdogan und seinem Kabinett. Mit all den Beweisen und Aussagen die wir als CPT gesammelt haben, können wir Gerechtigkeit für die vielen zivilen Opfer durch die Türkei erlangen.“
Wenn Erdogan nicht aufgehalten wird, dann wird es nicht nur bei den sogenannten „Terrorist:innen“ bleiben. Nach der kurdischen Bevölkerung wird es neue Feinde geben, die ausgelöscht gehören, warnt Kamaran. Und die nähere Geschichte zeigt die stetigen Auseinandersetzungen mit Griechenland, Alevit:innen, Armenier:innen und anderen Bevölkerungsgruppen. Die anstehenden Wahlen könnten etwas ändern. Doch zu viel positives darf sich nicht erhofft werden. Der Ausgang der Wahlen in der Türkei könnte erhebliche Auswirkungen auf das kurdische Volk im gesamten Nahen Osten haben. Sollte die Wahl zu einer Fortsetzung der AKP-Regierung von Präsident Erdogan führen, ist es möglich, dass die türkische Regierung ihre harte Linie in der Kurd:innenfrage fortsetzt. Dazu könnten weitere Militäraktionen gegen kurdische Gruppen in der Türkei und in den Nachbarländern sowie eine weiterhin verstärkte Unterdrückung jeglicher politischer und kultureller Ambitionen der Kurd:innen gehören.
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