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„Jin, Jiyan, Bauernkrieg – Frauen, Glaube und Rebellion von 1525 bis heute“
Eine politische Spurensuche zwischen dem deutschen Bauernkrieg und den Frauenaufständen im Iran.
Im Frühling 1525 marschiert eine Frau durch Süddeutschland, mit entschlossenem Blick und klaren Worten. Ihr Name: Margarete Renner, genannt die „schwarze Margaret“. Sie ist Müllerin, Wortführerin, Teil eines Haufens Aufständischer des sogenannten Bauernkriegs. Über sie ist wenig überliefert – wie über so viele Frauen der Geschichte, deren Widerstand nur in Andeutungen oder Inquisitionsprotokollen überdauert.
Knapp 500 Jahre später stirbt im Iran eine junge Kurdin, Jina Mahsa Amini, nach ihrer Verhaftung durch die Sittenpolizei. Ihr Verbrechen: ein „nicht korrekt getragenes Kopftuch“. Ihr Tod entfacht eine Protestwelle, die unter dem Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“ – Frau, Leben, Freiheit – die tief patriarchale Ordnung der Islamischen Republik infrage stellt.
Beide Geschichten trennen Jahrhunderte, Kulturen und Kontexte. Doch auf der Suche nach Kontinuität und Veränderung lohnt es sich, einen Blick auf beide Bewegungen zu werfen. Im Zentrum steht (weiblicher) Widerstand gegen religiös legitimierte Gewalt. Und die Hoffnung auf eine andere Welt von unten.
Widerstand gegen religiöse und patriarchale Herrschaft
Der Bauernkrieg war die größte Erhebung des gemeinen Volkes im Heiligen Römischen Reich. Dabei ist der Begriff irreführend, denn in diesem Krieg erhob sich vor allem der unterste Stand. Hunderttausende Bauern, Bäuerinnen, Tagelöhner, Vagabundinnen, Handwerker, Bürgerinnen, Theologen und Mägde erhoben sich gegen feudale Ausbeutung, kirchliche Privilegien und gottgewollte Ungleichheit. Mit den berühmten „Zwölf Artikeln“ forderten sie nicht nur ökonomische Gerechtigkeit, sondern auch eine radikale Umdeutung religiöser Autorität. Gott stehe nicht über den Fürsten, sondern über alle Menschen gleichermaßen.
Auch im heutigen Iran richtet sich der Protest gegen eine Ordnung, die Herrschaft religiös legitimiert – konkret: das theokratische Regime der Islamischen Republik, das seit 1979 Frauen mit Gesetzen zur Verschleierung, Ehe, Scheidung und öffentlichem Auftreten systematisch unterdrückt. Der Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“ bringt die Vision einer säkularen, geschlechtergerechten Zukunft auf den Punkt – und widerspricht damit fundamental dem religiös-begründeten Patriarchat des Regimes.
Frauen im Zentrum der Revolte
Im Bauernkrieg wurden Frauen als Mitkämpferinnen sichtbar – auch wenn die Geschichtsschreibung sie systematisch marginalisierte. Margarete Renner organisierte Aufstände, agitierte gegen Pfaffen, forderte „Brüderlichkeit“ auch für die Armen. Andere wie Ursula Jost, eine Prophetin, verbreiteten Visionen einer neuen, gerechteren Ordnung.
Doch bald darauf verstärkte sich die Gewalt gegen Frauen und religiösen Minderheiten stark: Nach der Niederschlagung des Bauernkriegs weitete sich die Hexenverfolgung massiv aus– eine Welle patriarchaler Disziplinierung, die vor allem weibliche Armut, Sexualität und Unabhängigkeit als Bedrohung markierte. Frauen wurden massenhaft gefoltert, verbrannt, kontrolliert. Silvia Federici spricht hier von einem „Krieg gegen Frauen“, der die Grundlagen moderner kapitalistischer Geschlechterverhältnisse legte.
Auch im Iran sind Frauen die zentralen Subjekte des Protests – und zugleich sein Hauptziel. Jina Amini war bei ihrer Verhaftung keine Aktivistin. Ihr Tod wurde politisch gemacht, weil er symptomatisch war: für eine Ordnung, die Frauenkörper als Symbol nationaler Ehre begreift – und daher bis ins Detail reguliert. Die Sittenpolizei, die Geschlechterapartheid im öffentlichen Raum, die Entrechtung im Familienrecht – all das dient nicht nur der Kontrolle, sondern der Reproduktion patriarchaler Herrschaft im Namen Gottes.
Die religiöse Sprache des Widerstands: Befreiungstheologie?
Interessant wird der Vergleich, wenn wir uns die religiösen Gegenerzählungen anschauen – also die Versuche, den Glauben selbst zum Motor der Befreiung zu machen.
Im Bauernkrieg geschah genau das: Radikale Reformatoren wie Thomas Müntzer verbanden biblische Visionen mit sozialrevolutionären Forderungen. Müntzer predigte das „reine Evangelium“, eine herrschaftsfreie göttliche Ordnung, in der „kein Mensch dem andern Knecht“ sei. Seine Theologie war kämpferisch, rebellisch – und zutiefst christlich. Die Bibel wurde zur Waffe der Armen.
Diese Art der Frühform einer christlichen Befreiungstheologie wurde allerdings von der entstehenden protestantischen Orthodoxie (allen voran Martin Luther) bekämpft. Luther verurteilte den Aufstand als Werk des Teufels und rief zur „harten, gnadenlosen“ Bestrafung der Aufständischen auf. Die kirchliche Lehre stellte sich damit gegen das revolutionäre Potenzial der eigenen Schriften – ein Verrat, der bis heute nachhallt.
Im Iran hingegen entwickelte sich in Teilen der schiitischen Theologie ebenfalls ein Widerstandsdiskurs – etwa bei Ali Schariati, der in den 1960er Jahren eine islamisch-marxistische Lesart propagierte, in der Mohammed als Prophet gegen Tyrannei gedeutet wurde. Schariati gilt manchen als früher Vordenker einer schiitischen Befreiungstheologie. Doch nach der Revolution 1979 wurde dieser Ansatz durch einen autoritären, klerikalen Islam verdrängt – es wurde das „Velayat-e Faqih“ (Herrschaft des Rechtsgelehrten) installiert.
Heute suchen viele iranische Theologinnen und Aktivistinnen wieder nach einer emanzipatorischen Lesart des Islam – etwa Zahra Rahnavard oder Amina Wadud. Diese Ansätze stehen allerdings massiv unter Druck und werden nicht selten als „westlich“ oder „gotteslästerlich“ gebrandmarkt. Gleichzeitig wächst eine säkulare Frauenbewegung, die offen mit dem Islam bricht – ein Unterschied zum 16. Jahrhundert, wo religiöser Glaube noch das zentrale Mittel der Revolte war und nur sehr marginale Gruppen sich komplett vom herkömmlichen Glauben distanzierten.
Gewalt von oben, Solidarität von unten
Wie 1525 enden auch die heutigen Proteste in Blut. Der Bauernkrieg wurde mit unglaublicher Härte niedergeschlagen: bis zu 100.000 Menschen starben. Viele Frauen wurden vergewaltigt, vertrieben, gerädert – und später als Hexen verbrannt.
Auch im Iran greift der Staat zu brutalsten Mitteln: Verhaftungen, Folter, sexuelle Gewalt, Schauprozesse. Und doch: Der Widerstand lebt. Im Netz, in Liedern, in geheimen Protesten – und in den Biografien von Aktivistinnen wie Narges Mohammadi, die 2023 den Friedensnobelpreis erhielt, obwohl (oder weil) sie weiterhin inhaftiert ist.
Der Körper als politisches Schlachtfeld
Ob im Mittelalter oder in der islamischen Republik: Der weibliche Körper war (und ist) immer ein Schauplatz politischer Auseinandersetzung.
Im 16. Jahrhundert wurde Weiblichkeit zunehmend dämonisiert: Als unkontrollierbar, sündig, gefährlich. Die Hexenjagden galten jenen, die sich nicht in patriarchale Strukturen einfügten – Hebammen, alte Frauen, Kräuterkundige, Aufständische. Sie wurden zu „Sündenböcken des Übergangs“, wie Federici schreibt – in einer Welt, die sich unter der Oberfläche kapitalistisch, protestantisch und patriarchal neu organisierte.
Im Iran hingegen ist der weibliche Körper nicht dämonisch, sondern symbolisch: Er steht für nationale Reinheit, göttliche Ordnung, moralische Überlegenheit gegenüber dem Westen. Darum ist der Hidschab keine reine private religiöse Praxis, sondern Staatsdoktrin. Sein Bruch wird als Angriff auf das ganze System begriffen – und entsprechend hart bestraft.
Von unten, mit Mut
Was bleibt bei aller Unterschiedlichkeit? Eine Geschichte des Widerstands von unten, in der Frauen oft die ersten, mutigsten und verletzlichsten Akteurinnen sind. Sie kämpfen nicht nur gegen politische Unterdrückung, sondern gegen eine doppelte Gewalt: patriarchale Kontrolle (auch in den eigenen Bewegungen) und religiöse Legitimation.
In beiden Fällen wird ihr Widerstand brutal bekämpft – und doch bleibt er wirksam. Er zeigt, dass sich unter der Oberfläche großer Systeme immer auch kleine Risse bilden. Dass Rebellion nicht immer siegt – aber nie umsonst ist. Dass Geschichte nicht nur von Königen geschrieben wird, sondern auch von Mägden, Bäuerinnen, Töchtern und Studentinnen.
Ein kritischer Vergleich, kein Gleichsetzen
Natürlich: Wir dürfen den Bauernkrieg nicht zur Blaupause für heutige Proteste machen. Wer heute Jin, Jiyan, Azadî ruft, steht nicht in der Tradition von Thomas Müntzer – vielleicht noch mehr in jener von Margarete Renner. Doch die historischen Bedingungen, kulturellen Kontexte und politischen Zielsetzungen unterscheiden sich grundlegend. Aber sie lehren uns, Sensibilität für Strukturverhältnisse, für die Wiederkehr bestimmter Repressionsmechanismen – und für die Kraft kollektiver Revolte. Der radikale Teil beider Bewegungen stellt sich dieselben Fragen: Wer darf Macht kritisieren? Wer darf Gesellschaft gestalten? Und welche Rolle spielt dabei das Geschlecht?
Wer diese Fragen heute stellt, muss beides tun: die Vergangenheit kritisch erinnern und die Gegenwart solidarisch betrachten. Das Aufbrechen patriarchaler Ordnungen – sei es unter dem Banner des Evangeliums oder unter dem Ruf „Jin, Jiyan, Azadî“ – ist nie eine rein nationale Angelegenheit. Und leider auch keine eines bestimmten Zeitalters. Es ist eine Geschichte des Aufbegehrens, des Erinnerns, des Wiederkäuens von Rebellion.
Wer kämpft, schreibt Geschichte
Der Bauernkrieg wurde verloren. Die Proteste im Iran sind brutal niedergeschlagen – aber nicht verschwunden. Beide erzählen davon, wie tief Ungerechtigkeit wirkt – und wie mächtig die Vorstellung von Gerechtigkeit sein kann. Dass Frauen diese Kämpfe führen – als Müllerinnen, Mütter, Studentinnen oder Lehrerinnen – ist kein Zufall. Sondern ein historisches Muster.
Es lohnt sich, ihre Geschichten zu erzählen. Nicht als Heldinnenmythen. Sondern als politischer Spiegel: für das, was war. Und das, was sein könnte.
Weiterführende Links und Literatur:
Zu Narges Mhammadi: https://www.amnesty.de/briefe-gegen-das-vergessen/2016/7/iran-narges-mohammadi
Zu Amina Wadud: https://arabic.georgetown.edu/meet-the-scholar-amina-wadud/
Zu Zahra Rahnavard: https://www.igfm.de/zahra-rahnavard/
Zu Ali Sharati: https://shariati.com/bio.html
Zu Ursula Jobst: Kaufmann, Thomas (2019): Die Täufer. Von der radikalen Reformation zu den Baptisten.
Zu Margarete Renner: https://www.spiegel.de/geschichte/bauernkrieg-1525-margarete-renner-und-die-rolle-der-frauen-in-dem-aufstand-vor-500-jahren-a-860e17ba-5b4c-45bc-87d5-5cd953cfa90a?
Zu Frauen im Bauernkrieg: https://www.arte.tv/de/videos/117712-000-A/die-frauen-des-bauernkriegs/
Zu Mahsa Amini: https://www.ips-journal.eu/topics/democracy-and-society/women-life-freedom-6232
Linke Perspektive: https://www.jungewelt.de/artikel/499270.geschichte-es-braucht-ein-jubil%C3%A4um.html
Gute Ausstellung: https://www.bauernkrieg-bw.de/
Hintergründe zu den Bauernkriegen:
Blickle, Peter (1985): Der Bauernkrieg. Die Revolution des gemeinen Mannes.
Schilling, Heinz (1992): Aufbruch und Krise. Deutschland 1517–1648.
Federici, Silvia (2004): Caliban and the Witch: Women, the Body and Primitive Accumulation.